Überwachung durch den Staat: Die Schweiz ist vorne dabei

Einführung der Echtzeitüberwachung in der Schweiz ohne Debatte

Quasi durch die Hintertür führte das EJPD der Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf (BDP) auf den 1. August 2009 die weitgehende Überwachung des Internets ein. Nachdem bereits seit 2002 die so genannte Vorratsdatenspeicherung (Aufbewahren der Verbindungsdaten von Internetnutzern) läuft, findet nun auch noch eine Echtzeitüberwachung statt. Die Richtlinie soll bis Ende Juni 2010 von den Schweizer Providern umgesetzt werden. Als Rechtsgrundlage erachtet das EJPD das Bundesgesetz SR 780.1 vom 6. Oktober 2000 betreffend der «Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs» (BÜPF) als genügend für die Einführung dieser Massnahme. Damit wird eine Entwicklung vorläufig abgeschlossen, die im Jahre 2006 angestossen wurde. (Siehe www.heise.de: 23.05.2006: Bericht: Schweiz plant umfassende Internet-Überwachung “…Die Bundesbehörden der Schweiz wollen künftig den gesamten Internet-Verkehr des Alpenstaats überwachen und zudem eine Bilddatenbank aller Bürger des Landes anlegen”)
Wie auf WOZ (online) zu lesen ist, wurden in aller Heimlichkeit unter Ansetzung einer äusserst kurzen Frist von 3 Wochen die Schweizer Internetprovider zur Stellungnahme aufgefordert. Dass dies auch noch mitten in die Ferienzeit gelegt wurde, zeigt, dass sich das EJPD der Brisanz der Angelegenheit bewusst war und wohl so eine breite Debatte verhindern wollte. Dafür spricht ebenso, dass das Schreiben als vertraulich(!) bezeichnet worden war. (Es findet sich zum Download auf der Homepage der WOZ, siehe unten).
Man rechne zudem mit Kosten von mindestens hunderttausend (100’000.-) Franken pro Provider. Eine Entschädigung des Staates von um die tausend Franken gibt es nur im Falle einer angeordneten Überwachung. Kleine Provider können sich das nicht leisten.

Mehr dazu auf:  http://www.woz.ch/artikel/2009/nr29/schweiz/18143.html

Rasterfandung und Kostenüberwälzung

Zu welchen Absurditäten Überwachung (von Internetverkehr und Telefon) führen kann, zeigt ein weiterer Artikel der WOZ: Einer unbescholtenen, von allen Vorwürfen freigesprochenen Frau wollte die Justiz die 45’000.- Fr. teuren Kosten für die Telefonüberwachung auferlegen. Sie hätte mit ihrem Verhalten die Überwachung provoziert.

Noch 1997 hat der Nationalrat präventive (Telefon)kontrollen untersagt hat. Doch mit den Anschlägen vom 11.9.2001 in New York hat der Wind gedreht. 2002 verlangte man von den drei schweizerischen Mobiltelefonbetreibern die Herausgabe aller Verbindungsdaten aller Menschen, die sich zum Zeitpunkt eines Banküberfalles in der selben Funkzelle befanden wie die Räuber. Eine Beschwerde der Telekomanbieter hat das Bundesgericht mit dem Hinweis abgelehnt, sie seien nicht beschwerdeberechtigt. Seither ist die Rasterfandung in der Schweiz möglich.

Der Artikel dazu: http://www.woz.ch/artikel/inhalt/2004/nr37/Schweiz/10461.html

Verbindungsdatenspeicherung

Verbindungsdaten müssen in der Schweiz seit 2002 von Providern für 6 Monate gespeichert werden. Als Grund wird die Verfolgung von Straftätern und die Prävention von Terrorismus angegeben. Da sich dieses Instrument als bei Weitem nicht so erfolgreich erwies, die Aufklärungsquote bei Strafsachen ist nicht höher als vorher, aber die Begehrlichkeiten der Strafverfolgungsbehörden geweckt waren, brauchte es für die Begründung weiter reichender Überwachung ein neues Argument: Die “Bekämpfung von Kinderpornografie”, die überall grassiere.

2006 unterstützte daher das Schweizer Parlament eine Motion des FDP-Ständerates Rolf Schweiger, die eine Verlängerung der Aufbewahrungsfrist der Logdaten auf ein Jahr fordert. Rolf Schweiger führte ebenfalls den Kampf gegen Kinderpornografie als Argument auf.

Das Internet macht aus Männern Kinderschänder?

Der Sonntagsblick titelte 2007: “SCHOCK - Wieder ist ein Fall von Kinderpornografie aufgedeckt worden. Und wieder wurden ein paar Kinderschänder erwischt. Zehntausende laufen frei herum. … Udo Rauchfleisch (64), Professor für klinische Psychologie und Psychotherapeut, schätzt: «Zwei bis drei Prozent der Männer in der Schweiz sind pädophil.» Das wären bis zu 86 000!”

Was ist davon geblieben? Die Operation Genesis führte 2002 zur Verhaftung von über 230 Männern. In einer Studie des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes (PPD) des Kantons Zürich (Bericht Tagesanzeiger) wurden die Dossiers dieser Männer ausgewertet. Das Resultat widerspricht völlig der von den Medien in die Öffentlichkeit transportierten Meinung, dass der Konsum von Kinderpornografie aus Männern Kinder missbrauchende Pädophile macht. Keiner der verhafteten Männer liess sich später etwas zuschulden kommen, nur 1% hatte überhaupt eine Vorstrafe wegen sexueller Übergriffe. Bei verurteilten Sexualstraftätern liegt die durschnittliche Rückfallquote bei 12 bis 20 Prozent, bei manchen Tätergruppen gar über 50 Prozent.

Das heisst nicht, dass der Staat nicht repressiv gegen Kinderpornografie vorgehen sollte, da sieht man durchaus Erfolge, doch hält die Begründung für eine weitreichende Überwachung des Internetverkehrs der Bürger und der Einführung von Zensur weiter her?

In Deutschland fiel letzte Woche ein (SPD) Politiker (Thomas Jurk) mit der Aussage (freiepresse.de) auf: “Wenn wir gegen das Grundgesetz verstossen, weil wir Pädophilen unmöglich machen kinderpornografische Bilder aus dem Internet herunterzuladen, dann nehme ich das in Kauf.”

Mit Killerargumenten gegen Kritik

Mit den fragwürdigen Argumenten Bekämpfung von Terrorismus und Kinderpornografie und Verfolgung von Urheberrechtsverstössen versuchen viele Staaten Überwachung und Zensur im Web auch gegen gesellschaftlichen Widerstand einzuführen. (-> Gründungen der Piratenparteien in Schweden, Deutschland und der Schweiz. Spiegel Online vom 3.8.2009: Der Aufstand der Netzbürger). Nun sind die beiden ersten Themenbereiche heikel und wer gegen die Überwachung der persönlichen Kommunikation und Aufbewahren von Verbindungsdaten Bedenken aufführt wird schnell in eine dunkle Ecke gestellt.

Kritisiert wird die Einschränkung der Meinungsfreiheit, die Bestrebungen nach Zensur, das unter Generalverdacht Stellen der gesamten Bevölkerung, der Verstoss gegen die verfassungsmässigen Rechte des Einzelnen, die Etablierung eines Überwachungsstaates, der eingeschränkte Nutzen (Wikipedia) und das Fehlen einer abschreckenden Wirkung vor Straftaten. Zudem ist das Missbrauchs- und Irrtumsrisiko nicht unerheblich.
Wer nicht sicher ist, dass er frei kommunizieren kann, hält sich mit seiner Meinung zurück. Doch eine gesunde Demokratie ist unbedingt auf eine freie Meinungsäusserung angewiesen.

In Deutschland warnt der Datenschutzbeauftragte des Bundes, Peter Schaar, vor staatlicher Überwachung (Artikel auf Spiegel Online vom 4.8.2009).

Zensur

In Deutschland führt das Bundeskriminalamt (BKA) nun Listen mit verbotenen Seiten zuhanden von Internetprovidern, die mit untauglichen Mitteln (“falsche” DNS Antworten, DNS-Sperren) Websurfer von pädophilen Inhalten im Internet abhalten sollen. Was auf diesen Listen landet untersteht keiner öffentlichen Kontrolle. Der Ruf nach Zensur von rechtsradikalen Webseiten ist schnell laut geworden und soll ebenfalls eingeführt werden. Was als extremistisch angesehen wird, entscheidet der Staat. Dass dies sehr heikel ist und einen Freipass für Zensur von missliebigen Meinungen darstellen kann, wird von vielen Kritikern angeführt, doch von den verantwortlichen Politikern oft einfach ignoriert oder darauf beleidigt reagiert, es geht ja vordergründig um ein gute Sache. Dabei können DNS-Sperren äusserst einfach umgangen werden.

Mehr dazu: Artikel auf Telepolis vom 6.8.2009: Danke für diesen hübschen Server! Danke im Namen aller Kin…

Fast 6700 Überwachungen 2008

2008 wurden vom Überwachungsdienst des EJPD fast 6700 Überwachungsmassnahmen aufgeführt, davon fast 4700 rückwirkende, bei dem die Verkehrsdaten von den Providern übermittelt werden müssen und fast 2000 Echtzeitüberwachungen von Telefongesprächen und E-Mails. Noch 1997 lag die Gesamtzahl von Überwachungen bei rund 1000.

Der wirklich Kriminelle aber wird sein Surfverhalten verschleiern (TOR, Onion-Routing-Verfahren) und seine Emails verschlüsseln (TLS).

Internet als “rechtsfreier Raum”?

Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein” tönt es von vielen Politikern immer wieder. Es gibt keine rechtsfreien Räume. Wer beleidigt oder kriminell im Internet wird, der kann genauso dafür belangt werden, wie im “offline” Leben. Doch diese Phrase wird beinahe von jedem Politiker von links bis rechts verwendet.

Ursula von der Leyen, Bundesfamilienministerin in Deutschland: “.. wie wir Mei­nungs­frei­heit, Demo­kra­tie und Men­schen­würde im Inter­net im rich­ti­gen Maß erhal­ten. Sonst droht das groß­ar­tige Inter­net ein rechts­freier Cha­os­raum zu wer­den, in dem man hem­mungs­los mob­ben, belei­di­gen und betrü­gen kann.”
Was aber das “richtige Mass” ist und wer es definiert, darüber sagt die Ministerin nichts aus.

Dazu 2.8.2009 lawblog.de: Die Meinungsfreiheit als Sondermüll

Mögliche erste Folgen für die breite Gesellschaft durch die Überwachung

Update: 08.10.2009:

In  Frankreich hat die Nationalversammlung am 22.09.2009 ein Gesetz im Verhältnis 2:1 verabschiedet, das Internetnutzern den Zugang entzieht, wenn sie öfter eine so genannte Urheberrechtsverletzung begehen. Ab 2010 wird denjenigen, die gegen das unter massivem Lobbyismus der Musikindustrie verschärfte Urheberrecht verstossen nach zweimaliger Warnung per Email und Brief ihr Internetzugang für ein Jahr gesperrt. Die Sozialisten wollen das Gesetz erneut durch den Verfassungsrat kippen lassen, wie das mit der ersten Fassung geschah.
In Deutschland liebäugeln immer mehr Politiker, vor allem der SPD, mit der Einführung eines ähnlichen Gesetzes. Dabei wird sogar bedauert, dass es die deutsche Verfassung nicht so einfach zulasse (den Bürger ihre Grundrechte zu entziehen).

Neben der Sperrung des Internetzugangs ist aber für die Medienindustrie der Weg zu privatrechtliche Klagen offen. In den USA wurde letzthin ein Student zu einem Schadenersatz von weit über 600’000$ verurteilt, weil er etwas über 30 Lieder heruntergeladen hatte.

Der Artikel dazu: heise.de/ct: Internetsperren gegen Urheberrechtsverletzer auch für Deutschland? - SPD-Sprecherin liebäugelt mit Internetsperren bei Urheberrechtsverstößen